Czernin

Peter Vujica
Thomas Trenkler (Hg.)

„Bitte, blättern Sie weiter!“

Die besten Kolumnen aus acht Jahren „Standard“

„Ich bedauere, es Ihnen sagen zu müssen, verehrte Leserin, verehrter Leser: Sie haben einen Fehler begangen. Sie haben zu lesen begonnen. Trotz meiner freundlichen Aufforderung, es nicht zu tun. Warum nehmen Sie mich nicht ernst?“

Mit diesen geradezu programmatischen Sätzen begann Peter Vujica im Jänner 1993 seine Kolumne, die seither allwöchentlich in der Wiener Tageszeitung „Der Standard“ erscheint. Doch kann man Peter Vujica, wenn er mit seinem Leser Zwiesprache hält, überhaupt ernst nehmen? Wenn er die absurdesten Geschichten auftischt? Ein Paradoxon an das nächste reiht? Kokett seine Befindlichkeiten ausbreitet, mit der Sprache und der Erwartung spielt? Schreibt er nicht selbst, er sei ein „Einfallspinsel“, der nur „Schwachsinn“ verzapfe? Und liefert er nicht die Begründung dafür? „Alles, was ich Ihnen an dieser Stelle im Lauf der Jahre erzählt habe, war die reine Wahrheit. Und weil es heißt, dass Kinder und Narren die Wahrheit sprechen, und weil erstgenannte Bezeichnung für mich wohl nicht mehr gut anwendbar ist, bleibt Ihnen, mir und allen wohl nur die Möglichkeit, mich unter die Narren zu reihen.“

 

Leseprobe:

Als wär‘s ein Adieu. Es geht eben nichts über eine fundierte Halbbildung. Heute wollte ich Ihnen gleich zu Beginn mit einem Zitat imponieren, doch daraus wird leider nichts. Erstens weiß ich nicht, von wem das Zitat, mit dem ich Sie beeindrucken wollte, stammt. Nicht genug an dem, ich weiß auch nicht, wie es lautet. Weil ich mich niemals getrauen würde, völlig unvorbereitet vor Sie hinzutreten, wollte ich meine nun in aller Offenheit vor Ihnen klaffende Bildungslücke selbstverständlich schließen und konsultierte zu diesem Zweck mehrere Persönlichkeiten, die mir für gewöhnlich über all das, was ich nicht mehr oder überhaupt nicht weiß, genaueste Auskünfte geben. Im vorliegenden Fall darf ich zu meiner Entlastung wenigstens anführen, dass die Bildungslücke, von der heute die Rede ist, auch bei meinen vielfach bewährten Auskunftspersonen klafft. Dass es sich bei besagter Lücke um eine ganz besondere handelt, sei nicht unerwähnt. Denn im Gegensatz zu übrigen Lücken, die ihrem Namen gerade dadurch gerecht werden, dass sie leer sind, weiß ich groteskerweise ziemlich genau, was in jener, die sich heute in mir und somit auch vor Ihnen auftut, drinnen ist. Ich sehe schon, jetzt habe ich mich in einen geradezu ausweglosen Pallawatsch hineingeschrieben. Scharfsinnig, wie Sie sind, werden Sie sagen: Eine Lücke, in der etwas drinnen ist, ist keine Lücke. Da mögen Sie schon Recht haben. Aber wie nennt man eine Lücke, die einen Inhalt hat? Befände sich in dieser Lücke zumindest ein Lückenbüßer, dann könnte ich ja trotzig darauf beharren, dass meine Lücke tatsächlich eine Lücke ist, da sich ein Lückenbüßer nirgendwo anders als in einer Lücke befinden kann, weil er außerhalb derselben ja kein Lückenbüßer, sondern ganz etwas anderes wäre. In meiner Lücke - sollte es mittlerweile in Vergessenheit geraten sein, es handelt sich um eine Bildungslücke - in dieser meiner Bildungslücke also findet sich ganz und gar kein Lückenbüßer, sondern Bildung. Glauben Sie, bitte, nur ja nicht, dass ich Sie zum Narren halte. In meiner Bildungslücke befindet sich tatsächlich Bildung, nur ein bisschen zu wenig eben. Wollte man ganz korrekt sein, könnte man meine Bildungslücke in noblerer Diktion auch nur als Bildungsdelle bezeichnen. Allein, ob Lücke oder Delle, es soll nicht nur von der Lücke oder Delle die Rede sein, sondern doch auch ein wenig von dem, was darin ist. In dieser Lücke befindet sich nämlich etwas, was mich nachdenklich stimmt. Irgendeinen gescheiten Mann hat man einmal gefragt, was er tun würde, wüsste er, dass er am nächsten Tag sterben wird. Und weil dieser Herr so gescheit war, gab er zur Antwort, er würde nichts anderes tun, als er auch dann tun würde, wenn er von seinem baldigen Tod nichts wüsste. Und so fragte ich mich vor unserer heutigen Zusammenkunft, was würde ich wohl schreiben, wenn ich wüsste, es ist das letzte Mal, dass ich mich mit Ihnen unterhalten darf. Es muss ja nicht unbedingt gleich Gevatter Tod sein, der uns auseinander bringt. Nur ein kleiner Windstoß des Schicksals genügt, und schon sind Sie oder ich an einem Ort, an dem wir einander nicht mehr so regelmäßig begegnen. Ja, was würde ich wohl sagen, wüsste ich, unsere heutige Zusammenkunft wäre unsere letzte? Vielleicht würde ich so wie dieser gescheite Herr zu Ihnen sagen, was ich eigentlich immer sage - nämlich nichts. Und ich würde Ihnen dieses Nichts auch zum Adieu mit der gleichen Herzlichkeit vortragen, mit der ich dies immer versuche. Und vielleicht würde dieses Nichts gar von einer Lücke handeln. Von einer Lücke, die eine richtige Lücke ist. Denn diese Lücke wäre dann der Ort, der Tag, die Stunde, an dem und zu denen ich Sie sonst berieseln durfte. Und kein Lückenbüßer fände Zutritt in diese Lücke. Meine freundliche Erinnerung hält vor ihr Wache. (erschienen am 30. Mai 1996)