Czernin

Ursula Storch

Die Welt in Reichweite

Imaginäre Reisen im 19. Jahrhundert

Die große, weite Welt hat die Menschen seit jeher fasziniert. Doch in der Zeit vor Pauschalreisen und Wellnesswochenenden gab es für einen Großteil der Menschen nur eine Möglichkeit, sich auf den Weg zu machen: die Reiseillusion.

Das Interesse für ferne Länder erlebte im 19. Jahrhundert einen ersten Höhepunkt. Beginnender Tourismus, Kolonialismus und Reiseliteratur auf der einen Seite, schwere Bedingungen und finanzieller Aufwand auf der anderen Seite. Für die Daheimgebliebenen entstanden schnell Alternativen, die ihnen ein Stück der Ferne ins eigene Land brachten – neben Panoramen, Guckkästen, Bühnentricks und Wachsfiguren waren das vor allem die Berichte derer, die die weite Welt mit eigenen Augen gesehen hatten. Der im Zusammenhang mit der Ausstellung des Wien Museums „Zauber der Ferne – Imaginäre Reisen im 19. Jahrhundert“ konzipierte Leseband versammelt Originaltexte aus eben dieser Zeit, die die Sehnsucht nach der Ferne und die Passion für das Reisen im vorletzten Jahrhundert wach werden lassen. Mit Texten von u. a.: Joris-Karl Huysmans, Peter Altenberg, Felix Salten, Gottfried Keller, Walter Benjamin, Arthur Schnitzler. Ausstellung im Wien Museum, Karlsplatz März 2009: Zauber der Ferne. Imaginäre Reisen im 19. Jahrhundert

 

Leseprobe:

Ich habe eine zweiundvierzigtägige Rundreise in meinem Zimmer unternommen und vollbracht. Die interessanten Beobachtungen, die ich machte, und das ständige Vergnügen, das ich auf dem Weg empfand, weckten den Wunsch in mir, es zu veröffentlichen; die Gewißheit, damit zu dienen, hat mich dazu bestimmt. Mein Herz empfindet eine unaussprechliche Befriedigung, wenn ich an die zahllosen Unglücklichen denke, denen ich ein sicheres Hilfsmittel gegen die Langeweile und eine Linderung der Leiden, die sie erdulden, anbiete. Das Vergnügen, das man beim Reisen in seinem Zimmer hat, ist sicher vor dem ruhelosen Neid der Menschen; es ist unabhängig vom Vermögen.
Gibt es ein menschliches Wesen, das so arm und unbehaust ist, daß es keinen Winkel hat, in den es sich zurückziehen, in dem es sich vor der Welt verbergen kann? Dies ist die einzige Voraussetzung für die Reise.
Ich bin sicher, daß jeder vernünftige Mensch, gleich, welchen Charakters und welchen Temperaments, sich mein Vorgehen zu eigen machen wird; jeder – er sei geizig oder verschwenderisch, reich oder arm, jung oder alt, in der heißen Zone oder nahe dem Pol geboren – kann reisen wie ich. Schließlich wird es unter der riesengroßen Familie der Menschen, die auf der Erdoberfläche herumwimmelt, nicht einen geben – nein, nicht einen (wohlgemerkt von denen, die Zimmer bewohnen) –, der, nachdem er dieses Buch gelesen hat, der neuen Art zu reisen, die ich in der Welt einführe, seine Zustimmung verweigern könnte.

(Xavier de Maistre: Reise um mein Zimmer (1794))