Czernin

Ruth Wodak

Das kann einem nur in Wien passieren

Alltagsgeschichten

Diese „Alltagsgeschichten“ sammeln Eindrücke, Erlebnisse, Geschichten, die viele Menschen in Wien erlebt haben oder auch erleben könnten. Allerdings nicht irgendwer, sondern Juden und Jüdinnen aus drei Generationen.

Diese Geschichten sollen nicht „anklagen". Sie stellen sich vielmehr in eine Tradition jüdischen Witzes und Humors, die ironisieren und verfremden … und so vieles erträglich machen. Es sind eben „Alltagsgeschichten": Alltäglichkeiten, oft kaum bemerkbar oder bemerkt, in der Fülle jedoch letztlich typisch, absurd, kränkend oder einfach komisch! Die erzählten Erlebnisse illustrieren den alltäglichen Antisemitismus, der in Wien lange Tradition besitzt und manchmal gar nicht mehr auffällt. Gerade aus letzterem Grund mögen diese Geschichten LeserInnen ein wenig zum Nachdenken anregen.

 

Leseprobe:

Verena Krausneker und Konrad Rennert Waschecht (Auszug). Prolog. Nichts kann einem nur in Wien passieren, alles kann einem überall passieren. Doch nur in Wien hat vieles einen ganz besonderen Geschmack, in Wien können die Dinge ein zusätzliches Aroma bekommen, und ich meine nicht Kaffee. Es ist dieses Aroma, dass Wiener G‘schichten von anderen Geschichten unterscheidet. Unsere Geschichten sind Geschichten über unser Erleben von Gerüchen, Düften, Gestank, Parfum, Jauche, Essensdunst und aromatisierter Luft in Wien. Und über das Riechen. Wir Wiener Waschweiber. Um ein Interview für ein Forschungsprojekt zu machen bin ich im Parlament bei einem Abgeordneten. Ohne besondere Sympathien, ohne besonderes Verständnis füreinander gehen zwischen dem burgenländischen Parlamentsabgeordneten und mir die Fragen und Antworten hin und her, es geht um die EU-Erweiterung. Von diesem mir fremden Mann werde ich mitten im Interview, als es um die Vorurteile der ÖsterreicherInnen geht, zweifelnd gefragt, ob ich waschecht wäre, ob ich „wirklich waschechte Wienerin“ sei? Dabei schielt er auf den Chaj-Anhänger, den ich trage. Als offensichtlich nicht ganz waschechte Wienerin bin ich erst einmal schmähstaad – und bejahe, bringe dann das Interview voll Beherrschung hinter mich, ohne zu schreien. Ein unvergessliches Erlebnis. Später überlege ich, was sich jemand denkt, der solche Fragen stellt. Lassen wir die Unverschämtheit des Fragers beseite (schließlich hat er unmotiviert und mitten in einem Interview zu einem völlig anderen Thema den Spieß umgedreht). Und lassen wir die Tatsache beiseite, dass er für eine Partei arbeitet, die als echt österreichisch etwas explizit deutsches versteht. Und lassen wir die Absurdidät und Dummheit der Formulierung der Frage beseite…. Lassen wir all das beseite, so bleibt ein interessantes Kernaroma übrig: der echt wienerische Geruch. Der Gestank der Vermutung, ich sei Jüdin und die daraus gezogene zweifelnde Schlußfolgerung, ich könne somit keine ‚echte‘ Wienerin sei. Was bedeutet es, waschecht zu sein? Was passiert, wenn ich mich wasche? Geht dann das Blond ab? Kommt dann was Dreckiges zutage? Etwas Unösterreichisches? Waschechte österreicherin - oder nur bei 30 Grad? (Tatsächlich fühle ich mich nach diesem Interview so schmutzig, dass ich, wieder im Büro angekommen, zum ersten Mal die Bürodusche benütze). Differenzen. Ich bin 18 und trage einen kleinen, goldenen Davidstern-Anhänger. Jemand aus der Schule, den ich nicht gut kenne, steht mir am Gang gegenüber, wir tratschen. Dann schaut er auf meinen Hals, fragt, ob ich Jüdin sei? - Ja. - Wow, super! Und ein strahlendes, bewunderndes Lächeln ist die – mir unangenehme - Reaktion. Das war in Wien. Ich bin 19 und sitze mit meiner Freundin auf einem Mauervorsprung im Samstagabendgewimmel der Stadt. Zwei fremde Männer bleiben vor uns stehen. Der eine möchte, dass ich mich bedanke, weil er gesagt habe, ich sei schön. Ich verweigere. Ich bedanke mich nicht auf Befehl für unaufgefordert gemachte Komplimente. Er und sein Freund kommen bedrohlich näher, bestehen darauf, gehen nicht weg. Ich sage letztendlich tonlos mercí. Er sieht meinen Davidstern und fragt, ob ich Jüdin sei? Dann spuckt er mir ins Gesicht und geht weg. Meine Freundin schreit ihm motherfucker nach, ich wische mir das Gesicht ab. Aber nun steht der Freund vor uns aufgebaut, bedrängt uns, weigert sich zu gehen. Bis wir uns, wie von ihm verlangt, entschuldigt haben. Bei uns hat sich nie jemand entschuldigt. Das war in Paris.