Czernin

Robert Schlesinger

Die Emotionale Revolution

Die Oper als Schlüssel zu den 150 Jahren des 19. Jahrhunderts

Was wir für das selbst- verständliche Gefühlsleben jedes Menschen halten, ist in Wahrheit keine 250 Jahre alt: Gefühle im modernen Sinn entstanden im späten 18. Jahrhundert in Europa, und erst nach dem Ersten Weltkrieg war es so weit, dass sie alle sozialen Schichten erfasst hatten.

Eine „Emotionale Revolution“, die in den zwischen-menschlichen Beziehungen und in der Psyche des Einzelnen keinen Stein auf dem anderen ließ. Robert Schlesinger stellt die Theorie auf, dass diese Emotionale Revolution die Voraussetzung für die europäische Moderne bildet, gewissermaßen die Mutter der Französischen wie auch der Industriellen Revolution. Der Ausgangspunkt der Theorie – die ursprüngliche Frage des Autors – mag erstaunen: Welches gesellschaftliche Bedürfnis stillte die Oper? Die Suche nach einer Antwort führt Schlesinger zur Emotionalen Revolution: Die Oper des 19. Jahrhunderts war und ist nämlich die wichtigste künstlerische Ausdrucksform des neuen Gefühlshaushaltes, und der (damals noch ganz alltägliche) Gegensatz zwischen vormodernen und modernen Gefühlen ihr zentrales Thema. So ist ein Opernbuch entstanden, das über die Oper weit hinausgeht.

 

Leseprobe:

Sprachrohr des Bürgertums oder Sprache des Gefühls? Wie man die Opernliteratur über zwei Leisten schlagen kann. Es ist banal, aber nichtsdestoweniger wahr: Der Text ist in der Oper schwer verständlich. Nicht wenige Wissenschaftler versagen jedoch einer Binsenweisheit wie dieser jede Beachtung: Eine halbe Bibliothek lässt sich mit Abhandlungen füllen, die die Oper als eine Teildisziplin der Literatur ansehen, und die es diskret übergehen, dass in einem Opernhaus auch musiziert wird. Selbstverständlich ist der Text von allen Teilen des komplizierten Kunstwerkes Oper jener, aus dem sich am leichtesten ein politischer und gesellschaftlicher Standpunkt ablesen lässt; und so geschieht es allenthalben, selbst in wissenschaftlichen Werken, die auch der Musik Gehör schenken. Tatsächlich aber sind die einzigen (abgesehen von den Souffleuren natürlich), die den gesamten Text überhaupt kennen, die Sänger, und ihnen die Einfühlung in ihre Rollen zu erleichtern, ist wohl der wichtigste Grund da-für, dass eine Oper auf zusammenhängende Sätze statt auf „La-la-la“ gesungen wird: Die Sänger sind die ersten Adressaten des Librettos, nicht das Publikum, das nur Fragmente davon versteht, dort etwa, wo die Musik zurücktritt oder wo ein Wort mehrfach wiederholt wird – und jedenfalls nur unter der Voraussetzung einer einfachen Syntax. Besonders selten trifft all dies übrigens in den Werken Richard Wagners zu, deren Texten die Wissen-schaft paradoxerweise große Bedeutung zu unterstellen pflegt. Verdi hingegen verlangte von seinen Librettisten ausdrücklich parole sceniche, dramatisch wirksame Schlüsselworte, die an geeigneter Stelle eindringlich hervor- gehoben und dem Publikum eingeprägt werden sollten. Vor jeder seriösen Librettoanalyse hätte also die Frage geklärt zu werden, welche Textbrocken sich den Zuhörern eigentlich mitteilen, welches die parole sceniche sind. Die Anregung dazu findet sich bei dem großen Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus, befolgt hat sie leider bis dato niemand, auch Dahlhaus selbst nicht. Ein entscheidendes Kriterium wird man dabei im musikalischen Stil des Werkes suchen müssen: Ein Secco- Rezitativ, nur vom Cembalo begleitet, beeinträchtigt die Verständlichkeit des Textes kaum, und folgerichtig bestand bis in die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts generell mehr Interesse für das Libretto, welches nicht selten vor der Aufführung gelesen wurde. Seit das Orchester aber auch zu den Rezitativen spielte, seit der Zeit Bellinis also, erwartete das Publikum, die Grundzüge der Handlung quasi als Pantomime nachvollziehen zu können. Bei Koloraturstücken etwa, oder bei den Satzungetümen und der Orchestergröße Wagners lässt der geringe Grad an Verständlichkeit es kaum der Mühe wert scheinen, sich für den Text näher zu interessieren. Die Frage aber, der wir hier nachzugehen haben, ob nämlich die Oper in ihrer Blütezeit eine bürgerliche Kunstform gewesen sei, lässt sich auch bei der unsinnigen Beschränkung auf den Text nicht klar beantworten; zu uneinheitlich sind die weltanschaulichen Positionen, die dabei ans Licht kommen. Was etwa die Titelheldin von Georges Bizets Carmen – eine radikal individualistische und ungemein faszinierende Frau, die für das Auditorium ganz gewiss eine Identifikationsfigur ist – explizit über die Gesetzestreue singt, das ist weit eher anarchistisch als bürgerlich. Als Kapitalismuskritik kann, wer mag, das Rondo des Mephisto aus Charles Gounods Faust verstehen: „Ja, das Gold regiert die Welt. Sie baut Throne, Gott zum Hohne, der Macht, die sie gefesselt hält.“ (Dass bei der Librettoanalyse auch noch die Übersetzungen in andere Sprachen einbezogen gehörten, sei nur am Rande erwähnt.) Was für ein Gegensatz, bleiben wir nur beim Thema Gold, zu den Be-trachtungen über das Eheglück, die der Kerkermeister Rocco im Textbuch zu Beethovens Fidelio anstellt: „Hat man nicht auch Gold beineben, kann man nicht ganz glücklich sein.“ Solche Beispiele ließen sich in beliebiger Zahl anführen: In den Opernlibretti findet sich beinahe dieselbe Vielfalt an weltanschaulichen Standpunkten wie in den Gesellschaften, denen sie entstammen. Vom Text gilt es strikt die Handlung zu unterscheiden. Dass dies kaum je beachtet wird, zeigt nur, wie verbreitet der Irrtum ist, die Oper sei ein Theaterstück mit Musikuntermalung. Gewiss, im Sprechtheater entsteht die Handlung im Wesentlichen aus dem Text. In der Oper aber muss sie für jedermann offensichtlich sein, auch wenn vom Text noch so viel in den Wogen des Orchesters untergeht; der Zuschauer leitet die Handlung also aus dem Bühnengeschehen ab, und der Text kann dessen Verständlichkeit nur punktuell unterstützen. Louis Véron, Direktor der Pariser Opéra Mitte des 19. Jahr-hunderts, formulierte anschaulich, die dramatischen Vorgänge müssten in der Oper auf dieselbe Weise verständlich sein wie im Ballett: als Aktion auf der Bühne, als Pantomime, und ohne Rücksicht auf das gesungene Wort. „Handlung“ in diesem Sinne haben wir als einfaches Grundgerüst zu definieren, ohne all die Details, die allein der Text vermitteln könnte. Sehr oft ist sie übrigens nicht einmal das Werk des Textdichters, man denke an die zahllosen Libretti, denen Theaterstücke oder Romane zugrundeliegen. Die getrennte Behandlung von Text und Handlung mag zwar spitzfindig scheinen – aber nur so lange, bis man an Richard Wagner denkt. Denn wer könnte einen Dichter, und sei er nur ein Textdichter, ernst nehmen, der „Wohin ich forschend blick’ …“ auf „… in Stadt- und Weltchronik“ reimt? Einen, der schreibt: „Nie sollst du mich befragen noch wissend Sorge tragen, woher ich kam der Fahrt, noch wie mein Nam’ und Art“, und das noch dazu als parola scenica in Verdis Sinn? „Der Augen leuchtendes Paar, das oft ich lächelnd gekost, wenn Kampfeslust ein Kuss dir lohnte, wenn kindisch lallend der Helden Lob von holden Lippen dir floss, dieser Augen strahlendes Paar, das oft im Sturm mir geglänzt, wenn Hoffnungssehnen das Herz mir sengte, nach Weltenwonne mein Wunsch verlangte aus wild webendem Bangen, zum letzten Mal letz’ es mich heut’ mit des Lebewohles letztem Kuss.“ Ein Augenpaar, das küsst – die Reputation, die Wagner trotzdem genießt, beweist, wie nebensächlich der Text in der Oper ist. Eine viel wichtigere Fähigkeit als das Dichten nämlich hat Wagner in hervorragendem Maße besessen: Im Entwerfen der Handlung und in ihrer Zusammenfassung zu anschaulichen Szenen war er ein Meister, wie die Geschichte der Oper nur wenige kennt; ein jämmerlicher Dichter, aber ein großer – Dramatiker, so könnte man in Ermangelung eines wirklich passenden Wortes vielleicht sagen. Auf der Suche nach weltanschaulichen Standpunkten in der Oper wird man sich also mit weit größerem Gewinn an die Handlung halten als an den Text: Welche Inhalte von politischer Relevanz sind so offensichtlich, dass sie durch das Spiel auf der Bühne deutlich gemacht werden? Die Opern, die in der und für die Französische Revolution geschrieben wurden, sind dafür eine Fundgrube. Le congrès des rois etwa, ein Gemeinschaftsprodukt von nicht weniger als zwölf Komponisten, uraufgeführt 1794, hat eine Verschwörung gegen die europäischen Könige zum Inhalt, angezettelt von deren eigenen Frauen, die für die Revolution gewonnen werden konnten; am Ende lassen sich auch die Könige selbst vom revolutionären Geist anstecken. Aus demselben Jahr stammt Dénis le Tyrant, maître d’école à Corinthe von André Ernest Modeste Grétry: Dionysios von Syrakus, der legendäre Despot, wirkt nach seiner Entthronung unerkannt als tyrannischer Schuldirektor in Korinth. Als er durch einen Zufall enttarnt wird, jagen ihn die Kinder aus der Stadt; an seine Stelle setzen sie eine Freiheitsstatue. Niemand wird aber behaupten wollen, dass derlei für die Opernliteratur ty-pisch sei; die Revolutionsoper blieb eine ephemere Erscheinung, und dauer-hafte Auswirkungen hatte sie allein auf die Musik: Im Orchestergraben wurden durch sie Blechbläser und Schlagwerker in größerer Zahl heimisch; und auf der Bühne Männerchöre – die Militärmusik hielt in die Oper Einzug. Da und dort finden sich noch andere Beispiele für Opernhandlungen, aus denen sich weltanschauliche Aussagen mehr oder weniger schlüssig ablesen lassen. Der barocken, höfischen Oper etwa mangelte es an Satire und Spott, und man mag durchaus mit Franco Piperno schließen, dass es ihr eben darum auch an Sozialkritik gemangelt habe, dass sie somit die Ideologie des herrschenden Adels bejaht habe. Von Carl Dahlhaus stammt die Beobachtung, dass die Opera buffa im 18. Jahrhundert keineswegs, wie oft behauptet wird, bürgerlich-progressiv gewesen sei; denn sie habe zwar Bürger auf die Bühne gestellt – aber als Objekte der Komik, also aus aristokratischem Blickwinkel. Ivan Nagel ist aufgefallen, dass Mozarts hochherzige Opern-Könige Idomeneo und Tito nach absolutistischen Maßstäben außerordentlich schwache Herrscher sind. Und in der Spätphase der Wiener Operette, nach dem Zusammen-bruch der österreichisch- ungarischen Monarchie, spielten fast alle Stücke dieser Gattung unter Adeligen, die darin als die Repräsentanten der „guten, alten Zeit“ glorifiziert wurden. Der Versuch, zwischen Opernhandlung und gesellschaftlich-politischer Entwicklung einen Zusammenhang herzustellen, kann also durchaus glücken – in Einzelfällen. Noch öfter freilich stiftet er mehr Verwirrung als Klarheit, und das umso mehr, je konkreter er unternommen wird. Fernand Cortez von Gasparo Spontini etwa, 1809 in Paris uraufgeführt, war ein Auftragswerk der napoleonischen Regierung, die damals bestrebt war, sich Spanien einzuverleiben. Die skeptische französische Öffentlichkeit musste sie für dieses Unterfangen erst gewinnen; Spontinis Oper sollte dazu beitragen: Wie Cortez auf der Bühne Mexiko vom grausamen aztekischen Priesterregime befreite, so würde die französische Armee Spanien von der ebenso grausamen Inquisition befreien; die Presse berichtete in der gewünschten Form. 1810 aber verschwand das Werk für einige Monate vom Spielplan der Opéra: Napoléons Bruder Joseph war mittlerweile spanischer König – und sein Heer von der spanischen Bevölkerung in eine Guerilla verwickelt, worauf das Pariser Publikum das Naheliegende getan und die sieg-reichen Spanier des 17. Jahrhunderts mit den Spaniern des 19. identifiziert hatte. Ähnlich erging es La Vestale, gleichfalls von Spontini: Der Tenor Licinius, römischer Feldherr und Friedensbringer, triumphaler Sieger über die Gallier, war eine Napoléon- Allegorie. 1814 allerdings, nach Napoléons Niederwerfung, verlangten der russische Zar und der preußische König in der Pariser Opéra La Vestale zu sehen: Sie nahmen einfach die besiegten Gallier wörtlich. Giacomo Meyerbeers Prophète wird gerne und nicht grundlos als reaktionäres Pamphlet verstanden: Die Wiedertäufer, wie Meyerbeer sie zeigt, eine revolutionäre religiöse Massenbewegung unter Führung des Wirtes und falschen Propheten Jean, sind ein mord- und raubgieriger, sittenloser Haufen von Verrätern und Intrigan-ten, der eine brutale Schreckensherrschaft errichtet. Im Jahr der Uraufführung 1849 lag es wohl allzu nahe, in ihnen die Revolutionäre von 1848 zu erblicken. Tatsächlich aber hatte Meyerbeer das Werk schon einige Jahre vor 1848 fertiggestellt. Trotzdem verblüfft es, in einem Aufsatz, der in der DDR entstanden ist, auf begeisterte Zustimmung zum Prophète zu stoßen: Jean sei die erste musikalisch-dramaturgisch durchgebildete plebejische Opernfigur. Vieles, was aus der DDR auf uns kam, vermag einen überhaupt von der gesellschaftspolitischen Interpretation der Oper zu kurieren. Bei einer Tagung in Ost- Berlin 1971 zerbrach sich eine hochkarätige Diskussionsrunde, darunter namentlich der junge Götz Friedrich (der spätere westdeutsche Starregisseur), den Kopf über Verdis Falstaff: Kann man Falstaff sympathisch finden, obwohl er ein Adeliger ist? Agiert er als verarmter Schnorrer und Betrüger (der reichen Damen den Hof macht, um an ihr Geld zu kom-men) nicht auch antibürgerlich? Sind Alice und Meg, die seine Schliche durchschauen und ihm sowie, in einem Aufwaschen, Alices krankhaft eifersüchtigem, patriarchalischem Ehemann einen heilsamen Streich spielen; sind also diese beiden Frauen primär Bürgerinnen oder primär emanzipatorisch engagiert, sprich – in Friedrichs Worten – „sowohl antifeudalistisch als auch antibourgeois"? Doch zurück zum Ernst der Sache: Für Carl Dahlhaus zeigt die Zurückdrängung der antiken, mythologischen Opernstoffe der Barockzeit durch roman-tische Sujets etwa nach Scott, Shakespeare oder Hugo, „dass die Opera seria des 19. Jahrhunderts, auch wenn sie im Hoftheater aufgeführt wurde, literarisch primär auf das bürgerliche Parkettpublikum als ‚Geschmacksträger-schicht‘ zielte.“ Stichhaltig ist das keineswegs, denn es geht – auf durchaus übliche, aber darum nicht weniger groteske Weise – davon aus, die Aristo-kratie habe sich vom 18. zum 19. Jahrhundert um kein Jota verändert. Selbstverständlich aber spricht nichts dagegen und einiges dafür, dass sich in der Zeit der Romantik auch Adelige für Victor Hugo begeisterten. Auch wenn man biographische Daten der Komponisten in die Werkanalyse einbezieht, wird die Sache nicht eindeutiger. Gioacchino Rossini beteiligte sich am 28. April 1826 in Paris an einem Konzert, das von der philhellenischen Bewegung veranstaltet war und dessen Erlös dem griechischen Freiheitskampf zufloss, den zu unterstützen für die westeuropäischen Liberalen unter den Bedingungen der Restauration eine Art Ventil war, eine Möglichkeit, sich überhaupt einmal für Freiheit einzusetzen zu können. Anselm Gerhard hat daraus seine Deutung von Rossinis Le siège de Corinthe abgeleitet, einer Oper, die ebenfalls 1826 herauskam und den Kampf der Griechen gegen die Türken anno 1458 zum Inhalt hat. Das wirkt schlüssig – auf den ersten Blick. Auf den zwei- ten bemerkt man, dass Le siège de Corinthe nur die französische Neufassung des Maometto II war, den Rossini schon 1820 zur Uraufführung gebracht hatte; der griechische Freiheitskampf aber begann erst 1821. Ob Rossini an dem philhellenischen Konzert etwa nur teilnahm, um für seine neue Oper, die so gut dazuzupassen schien, zu werben? Dass Verdi mit seinen Frühwerken wie etwa Nabucco (die sich gerne um den Aufstand eines unterdrückten Volkes drehen) ein Bannerträger der nationalen Einigung Italiens war, galt schon den Zeitgenossen als selbstverständlich; dem Komponisten selber vielleicht weniger – oder hätte er sonst eine seiner erfolgreichsten Opern aus jener Zeit, I Lombardi alla prima crociata, 1843 ausgerechnet Maria Luise von Parma gewidmet, einer Repräsentantin der verhassten österreichischen Fremdherrschaft? Erst für Attila (1846) und La battaglia di Legnano (1848) ist bezeugt, dass Verdi mit ihnen eine politische Absicht verband. Es erfreut sich größter Bekanntheit, dass am 25. August 1830 in Brüssel im unmittelbaren Anschluss an eine Aufführung von Aubers Muette de Portici die Revolution ausbrach. Daraus den Schluss ziehen zu wollen, es handle sich um eine aufrührerische Oper, ist aber durchaus verfehlt. Der neapolitanische Vizekönig Alphonse, der das Fischermädchen Fenella verführt hat, ist nämlich alles andere als ein Feindbild. Zwar muss er, als wegen seines Seitensprunges ein Volksaufstand unter Fenellas Bruder Masaniello losbricht, eine Niederlage hinnehmen; aber da Masaniello der einzig edelmütige unter den Revolutionären ist, das Volk hingegen einmal mehr brutal und blutrünstig, wird der Anführer von den eigenen Leuten vergiftet und stirbt unmittelbar nach seinem Sieg; die Adelsherrschaft ist gerettet. Auber selbst hat übrigens diese Interpretation bestä-tigt. Die Brüsseler Aufführung, welche die Re- volution auslöste, war zum Geburtstag von König Wilhelm I. von Oranien angesetzt, der sich das Stück zu diesem Anlass selbst ausgesucht hatte. Das Losbrechen des Aufstandes nach der Vorstellung erfolgte auch nicht spontan, sondern war a priori abgemacht worden. Drei Monate zuvor war La muette de Portici in Paris zum Staatsbesuch des neapolitanischen (!) Herrscherpaares gegeben worden. Trotz alledem wurde „Amour sacré de la patrie“, ein zündendes Duett zweier Aufrührer aus dem zweiten Akt, zu einem Kampflied der progressiven deutschen Studenten. Und in Paris wurde die Muette nach der Julirevolution von 1830 viel gespielt; allerdings ließ man sie nicht mit Masaniellos Tod, sondern bereits zwei Akte vorher, mit dem Sieg der Aufständischen, enden – wobei zum Abschluss dieser Opernabende der berühmte Tenor Adolphe Nourrit in der Uniform der Nationalgarde ein patriotisches Lied sang. La muette de Portici kam also in den Geruch der Fortschrittlichkeit wie Pontius ins Credo: erstens auf Grund des historischen Zufalls, dass sie zum Startsignal der Brüsseler Revolte bestimmt worden war; zweitens, weil ihre mitreißendste Nummer zwei Aufständischen in die Kehle gelegt ist. Ohne Bedachtnahme auf die Musik kann, wie sich daran zeigt, die Analyse einer Oper nicht glücken; auch nicht die weltanschauliche Analyse.