Czernin

Nina Scholz
Gerhard Botz
Michael Pollak
Ivar Oxaal

Eine zerstörte Kultur

Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert

Wien um 1900 – historischer Nährboden für notorische und teils fanatische Judenfeindschaft, Ort des Erfolgs von Georg von Schönerer und Karl Lueger, spätere Stätte von Adolf Hitlers politischer Sozialisation.

„Eine zerstörte Kultur“ nähert sich dieser Stadt der Gegensätze aus unterschied- lichen Blickwinkeln. Wissenschaftler, Künstler und Zeitzeugen spüren der Akkulturation der jüdischen Minderheit, ihren Identitätsproblemen und ihrer intellektuellen Kreativität nach, setzen sich zum anderen aber auch umfassend mit den Spielarten des in Wien tief verwurzelten Antisemitismus auseinander. Weit über den zweiten Weltkrieg und die Zerstörung einer Kultur hinaus wird über das Leben „danach“ – ob in Wien oder in der Emigration – der Bogen in die Gegenwart gespannt.

 

Leseprobe:

Auszug aus dem Beitrag von Marsha L. Rozenblit: Segregation, Anpassung und Identitäten der Wiener Juden vor und nach dem Ersten Weltkrieg Das Gefühl, das der jüdische Schriftsteller Manès Sperber verspürte, als er im Sommer 1916 als zehnjähriger Junge auf der Flucht vor dem Einmarsch russischer Truppen in Galizien nach Wien kam, beschreibt er folgender- maßen: „[…] ich war von der Gewißheit beherrscht, daß wir nun wirklich dort angelangt waren, wo sich das Riesentor öffnete, durch welches ich in eine weite, der Zukunft verschriebene Welt eintreten würde. Alles lag vor uns.“ Ganz ähnlich erinnert sich Minna Lachs, deren Familie ebenfalls aus Galizien nach Wien flüchtete, in ihren Memoiren daran, wie „ganz benommen“ sie war, als sie in der Reichshauptstadt eintraf, deren „zauberhafte Schönheit“ ihr Vater ihr in allen Einzelheiten geschildert hatte. Diese Juden sahen in Wien mehr als nur eine schöne Stadt. Für Lachs stellte Wien für die Juden Österreich-Ungarns „nicht nur das Mekka deutsch-österreichischer Kultur, sondern auch das Tor zur europäischen Geisteswelt“ dar. Obwohl sie eher als Flüchtlinge denn als gewöhnliche Einwanderer nach Wien kamen, sahen Sperber und Lachs Wien als eine Pforte bzw. ein Tor, durch das Juden aus der ganzen Habsburgermonarchie Einlass in die faszinierende Welt der europäischen Kultur und Zivilisation finden würden. Doch Sperber wie Lachs erfuhren in Wien auch antisemitische Beleidigungen und Demütigungen, was zu einer gewissen Ambivalenz gegenüber der geliebten Stadt führte. Sperber beschrieb Wien als eine Stadt, „die ich so grenzenlos bewundert hatte, als ich noch im Städtel lebte, und die ich erst wahrhaft, ja leidenschaftlich zu lieben begann, nachdem sie mich wie durch einen bösen Zauber enttäuscht hatte – als die Zeichen ihres Untergangs in den letzten Kriegsjahren sie so entstellten, daß sie sich selber kaum noch glich.“ Auch Erna Segal klagt in ihren Erinnerungen über den Wiener Antisemitismus, doch obwohl sie ihre Memoiren viele Jahre nach ihrer Flucht aus Wien nach dem Anschluss verfasste, bestand sie auf der Feststellung: „Wien ist und bleibt meine Heimat – für immer und ewig.“ Obwohl das politische und gesellschaftliche Leben Wiens im späten 19. und frühen 20.Jahrhundert von Antisemitismus durchdrungen war, strömten Juden aus dem gesamten Habsburgerreich voller Hoffnung in diese Stadt, die für sie das Tor zu Europa darstellte. Nachdem die Reichshaupt- und Residenzstadt den Juden nach der Revolution von 1848 ihre Tore geöffnet hatte, kamen jüdische Zuwanderer aus Böhmen und Mähren, Ungarn und Galizien in großer Zahl nach Wien. Sie alle führte die Hoffnung nach Wien, hier ihren Lebensunterhalt besser bestreiten bzw. bisher für Juden verbotenen großstädtischen Berufen nachgehen zu können, sowie der Wunsch, sich die deutsche Kultur anzueignen und zu Bürgern einer Weltstadt, zu Wienern, zu werden. Dabei erwiesen sie sich als außergewöhnlich erfolgreich. Sie erlebten in der Großstadt einen raschen beruflichen Wandel, gaben das Hausieren und den Kleinhandel, womit die Juden lange Zeit ihr Auslangen hatten finden müssen, auf und wurden alsbald zu angesehenen Kaufleuten oder Kleinindustriellen, Verkäufern, Geschäftsreisenden und Managern von Handels- und Industriebetrieben (Handelsangestellten), Ärzten, Anwälten oder anderen Freiberuflern. Sie durchlebten einen raschen Akkulturationsprozess, gaben – so dies nicht schon in ihrer Heimat geschehen war – das Jiddische zu Gunsten des Deutschen auf, nahmen statt ihrer jiddischen Namen moderne deutsche Namen an, ließen etliche oder sogar die meisten Regeln und Vorschriften des traditionellen Judentums außer Acht und übernahmen den Lebensstil des deutschen Großbürgertums. Viele eigneten sich die deutsche Kultur an und besuchten das Gymnasium und die Universität. Nicht wenige konsumierten bzw. schufen Literatur, Kunst und Musik, und einige zählten zu den führenden Vertretern der Wiener Avantgarde. (…)