Czernin

Anton Pelinka
Max-Joseph Halhuber
Daniela Ingruber

Fünf Fragen an drei Generationen

Der Antisemitismus und wir heute

Als intellektuelle Herausforderung ist diese Publikation zu betrachten: Drei Generationen, geboren um das Epizentrum des Grauens – die organisierte Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten. Und fünf Fragen zum vergangenen und gegenwärtigen Umgang mit Juden, deren sehr persönliche Beantwortung auch den Zugang dreier Generationen widerspiegelt.

Unermüdlich kreisen die Erklärungsversuche der Befragten um das Phänomen des Antisemitismus: Wirtschaftliche, politische, religiöse, soziale und rassische Gründe legte sich dieser im Laufe der Jahrhunderte zu und war doch immer bloß ein „Stelldichein der Unzufriedenen“ (Theodor Herzl), ein „Sozialismus der Beschränkten“ (Karl Kraus), ein Ventil, das von Demagogen willkürlich geöffnet wurde und wird. Zudem benennen die Autoren die für die jeweilige Generation charakteristischen Idées fixes: den „mühsamen Rechtfertigungsversuch“ neben dem Bekenntnis, den Terminus der „unschuldig Geborenen“, die Distanz und das Unverständnis etc. Max Joseph Halhuber, Anton Pelinka und Daniela Ingruber gewähren uns Einblick in ihre persönliche „Wahrheitsfindung".

 

Leseprobe:

1. Was sind die Juden in Ihren Augen – ein Volk, eine Religionsgemeinschaft, eine Rasse? Ein Volk ist, was sich als Volk begreift. Eine Religionsgemeinschaft wird von denen definiert, die ihr angehören. Eine „Rasse“ gibt es nicht – außer durch die gemeinsame Sichtweise derer, die eine solche „Rasse“ sein wollen. Daher ist – als erste Antwort – die Identität der Juden eine Sache der Juden und nicht in der Kompetenz derer, die von außen, durch freundliche oder weniger freundliche Zurufe, den Juden eine bestimmte Identität zuweisen wollen. Jude ist, wer Jude sein will. Ich als Nichtjude habe das zu respektieren, was Juden und Jüdinnen sein wollen wie sie sich selbst bestimmen. Doch diese Antwort ist zu „normativ": Sie geht von einer persönlichen Sichtweise darüber aus, wie es sein soll. Diese Sichtweise ist „korrekt": Niemand soll das Recht haben, Juden ihre Identität vorschreiben zu wollen. In der Realität, die von der Geschichte und der Gegenwart des Antisemitismus geprägt ist, braucht diese normative Sicht eine Ergänzung – durch einen Blick auf die Realität auf das, was ist. Auch wenn diese Sicht weit weniger „korrekt“ ist. Dieser zweite Zugang führt zu einer empirischen Antwort: Wer Jude ist, das bestimmen die anderen. „Der Jude ist der Mensch, den die anderen als solchen betrachten … Der Antisemit macht den Juden … Wir haben gesehen, dass … nicht der Charakter des Juden den Antisemitismus macht, sondern dass im Gegenteil der Antisemit den Juden schafft.“ Wer von „den Juden“ spricht, muss zunächst vom Antisemitismus sprechen. Es gibt keine „Judenfrage“, und es hat auch nie ein „Judenproblem“ gegeben – es gibt aber das schreckliche, das erschreckende Problem des Antisemitismus. Die Klarheit, mit der Jean Paul Sartre 1945 jüdische Identität benennt, macht jüdische Identität zum Modellfall von Identität überhaupt: Es ist Illusion, von der – moralisch, normativ begrüßenswerten – Vorstellung auszugehen, Menschen würden ihre Identität in Freiheit selbst bestimmen können. Es ist ebenso Illusion, von der – moralisch, normativ schrecklichen – Vorstellung auszugehen, Menschen würden ihre Identität „objektiv“, angeboren, einfach übernehmen. War Bruno Kreisky Jude? Im Diaspora-Museum von Tel Aviv hängt das Bild Kreiskys nicht neben dem Henry Kissingers, in der Reihe prominenter Juden jenseits der Grenzen Israels. Für den Staat Israel war Kreisky offenkundig kein Jude – jedenfalls keiner, mit dem sich der Staat Israel gerne geschmückt hätte. Für die Nationalsozialisten aber war Kreisky Jude. Deshalb musste er, um sein Leben zu retten, in das schwedische Exil. Gegenüber seiner Umwelt hatte Kreisky die jüdische Identität akzeptiert – aber nicht im Sinne einer daraus ableitbaren religiösen oder politischen Konsequenz. Kreisky war Jude, weil die anderen – die Nichtjuden – in ihm einen Juden sahen. Identität wird gemacht – von der Gesellschaft. Identität wird sozial, wird politisch kreiert – unter mehr oder weniger deutlicher Berücksichtigung „objektiver“ Kriterien (Sprache, Religion, Geschlecht, Generation, etc.), unter mehr oder weniger begrenzter Möglichkeit individueller Mitsprache. Identität wird gemacht – die der Juden ebenso wie die der Inder, die der Frauen, die der Alten, die der Bauern. Identität ist daher auch immer in Fluss – weil sich die Rahmenbedingungen, von denen aus Identität gemacht wird, ebenso permanent ändern wie die politischen Kräfte, die Identität definieren. Deshalb ist es möglich, dass „die Juden“ gestern eine Religionsgemeinschaft und heute ein Volk sind,deshalb ist es möglich, dass es heute Menschen gibt, die sich als Juden im Sinne einer Religionsgemeinschaft definieren – und andere Juden, die sich als Juden im nationalen Sinne verstehen. Identität wird gemacht. Am Beispiel der Juden ist das besonders deutlich: Denn sie sind in der Geschichte des christlichen Abendlandes die auffallendsten Opfer von Identitätszuschreibung, von Identitätsstiftung. Die jüdische Identität ist der Prototyp für Identität schlechthin. „Der Jude“ wird gemacht, damit er unterscheidbar wird. „Der Jude“ muss anders sein, um das gesellschaftliche Bedürfnis nach Differenz zu befriedigen. „Der Jude“ darf nicht einfach nur Mensch sein. Er wird an seinem – bloßen – Menschsein gehindert. Damit ist „der Jude“ Prototyp für den Menschen schlechthin. Die Gesellschaft erlaubt nicht, zunächst ausschließlich den Menschen zu sehen. Die Gesellschaft verlangt, dass sich der Mensch einteilen lässt – in Frauen und Männer, in Junge und Alte, in Juden und Nichtjuden. Und mit dieser Differenzierung ist immer auch, jedenfalls der Tendenz nach, etwas Negatives gemeint. Ob Frauen eine Seele haben, darüber haben christliche Männer Jahrhunderte hindurch gestritten. Mit der Konsequenz, dass so für die Unterdrückung der Frauen ein ideologisches Beiwerk, eine theologische Rechtfertigung produziert wurde. Ob Juden als Gottesmörder nicht ein ewiges Kainsmal aufweisen, darüber wurde Jahrhunderte hindurch im christlichen Abendland parliert. Mit der Konsequenz, dass christliche Judenmörder eine Begründung für ihr Tun erhielten. Die Schaffung weiblicher Identität wurde zum Nachteil der Frauen, die Schaffung jüdischer Identität zum Nachteil der Juden. Daran ändert nichts, dass – selbstverständlich – Frauen heute ebenso ihre Identität selbst zu bestimmen versuchen wie das Juden für sich in Anspruch nehmen. Die Selbstzuschreibung von Identität gibt es, hat es immer gegeben. Aber die selbst gewählte Identität findet ihre Grenze in der Fremdzuschreibung. Und bei keiner anderen Identität ist dies so deutlich wie bei der jüdischen. Hannah Arendt hat in ihrer Arbeit zu Rahel Varnhagen das Dilemma jüdischer Identität zwischen Selbst- und Fremdbestimmung auf den Punkt gebracht: Die jüdische Emanzipation befreite das (europäische) Judentum vom Zwang totaler Fremdzuschreibung. Die Emanzipation gab den Juden die Freiheit der Selbstbestimmung. Doch diese war von vornherein beschränkt – auf die Wahl zwischen einer nunmehr frei gewählten jüdischen Identität und der Trennung von dieser Identität zwischen dem Verweilen im nunmehr nicht rechtlich, aber gesellschaftlich definierten Ghetto und der Anpassung an eine nichtjüdische Welt, in der die „Assimilanten“ aber immer „Juden“ bleiben würden,zwischen der Existenz isolierter Paria und der feindselig beobachteter Parvenus. Wie steht es mit der Freiheit der Juden heute, ihre Identität selbst zu bestimmen? Tom Friedman schreibt in seinem Buch Von Beirut nach Jerusalem von einem amerikanischen Juden, einem früheren Freund, den er in Israel trifft – als Einwanderer. Auf Friedmans erstaunte Frage, er, der Einwanderer, sei doch niemals religiös gewesen, antwortet dieser: Israel sei der einzige Platz der Welt, wo man Jude sein könne, ohne in die Synagoge gehen zu müssen. In Israel ist man Jude, weil man – als Staatsbürger – kein (moslemischer oder christlicher) Araber ist. In den USA ist man Jude, weil man (oder frau) zur Synagoge geht. In Europa besteht jüdische Identität vor allem in der Herkunft aus dem Judentum – jenseits von Zionismus oder Antizionismus, jenseits von religiöser Praxis (oder deren Fehlen). Die Frage der Herkunft allerdings bestimmt auch die Akzeptanz in Israel, bestimmt auch die Zugehörigkeit zu einer Synagoge in den USA. Die Geschichte des Antisemitismus, die in Auschwitz ihren logischen Endpunkt (aber nicht ihr Ende) gefunden hat, hat die Problematik der Identität am Beispiel jüdischer Identität auf den Punkt gebracht: Wir sind, was andere uns zuschreiben. Den Juden schreiben die anderen zumeist negativ konnotierte Eigenschaften zu: - Die „Raffsucht“, Reflex einer vorkapitalistischen Zeit, in der das schmutzige Geschäft des Zinsnehmens den Juden zugeschoben wurde, die wiederum nicht Grund und Boden besitzen durften – Grundlage einer „anständigen“ Existenz, die Christen vorbehalten war. - Die „sexuelle Energie“, Ausdruck eines machistischen Neidkomplexes, wobei den Fremden generell und den Juden speziell eine besondere Fähigkeit zugeschrieben wird, „uns“ die „eigenen“ Frauen wegzunehmen. - Die „Feigheit“, Folge des Ausschlusses der Juden von militärischen Funktionen – ein Vorurteil, das spätestens die Streitkräfte des Staates Israel, davor aber schon die Ghettokämpfer von Warschau zerstören hätten können. - Die „talmudische Intellektualität“, Affekt der an Bildung nicht oder wenig Interessierten, die sich von der auf Büchern bauenden Tradition jüdischer Gelehrsamkeit bloßgestellt sahen und sehen. - Die „kosmopolitische Heimatlosigkeit“, ein allen Nationalismen und dem offen antisemitischen Spätstalinismus eigenes Klischee, das aus der in Not geborenen Internationalität der Juden einen Vorwurf konstruiert. Alle diese und andere Klischees haben gemeinsam, dass sie vom Antisemitismus erzwungene Verhaltensformen überzeichnen oder sie überhaupt erst konstruieren, um sie dann den Juden als „typisch jüdisch“ vorhalten und negativ bewerten zu können. Der Antisemitismus schafft das „typisch Jüdische“ – und nützt es dann, um den Judenhass zu begründen. Antisemiten glauben zu wissen, was Juden auszeichnet,sie objektivieren ihre antijüdischen Vorurteile. Sie meinen, Juden und Jüdinnen erkennen zu können – an ihrem „Charakter“, an ihrem Verhalten, an ihrer Körperlichkeit. Max Frisch hat in Andorra diesen sozialen und politischen Prozess (jüdischer) Identitätsstiftung dramatisch zugespitzt: Andri ist „objektiv“ kein Jude. Aber weil er, aus der Zufälligkeit der Umstände, für alle (mit Ausnahme seines Vaters) Jude ist,auch, weil er deshalb selbst an sein Judentum glaubt, wird er zum Juden: kulturell, weil er die angeblich „typisch jüdischen“ Verhaltensformen annimmt und politisch, weil er in der von den Schlächtern veranstalteten biologistischen „Judenschau“ als Jude „entlarvt“ wird. Andri ist Jude – obwohl er keiner ist. „Der Judenschauer … Der hat den Blick. Verlasst euch drauf! Der riecht’s. Der sieht’s am bloßen Gang, wenn einer über den Platz geht. Der sieht’s an den Füßen.“ Der „Judenschauer“ sieht und riecht, dass Andri Jude ist. Obwohl Andri „eigentlich“ kein Jude ist. Doch der „Judenschauer“ hat natürlich recht: Der Antisemitismus hat aus dem Nichtjuden Andri einen Juden gemacht, lange vor der „Judenschau". Der Nichtjude Andri stirbt als Jude. Der Jude wird verbrannt – das ist schon bei Lessing das Urteil über den Juden – unabhängig davon, was des Juden Motive, was seine Ethik, was seine persönliche Entscheidung sind. Der Jude ist schuldig, weil er Jude ist. Und ob er Jude ist, das bestimmen die anderen. Wer will sich heute anmaßen, jüdische Identität zu definieren – außer für sich selbst?