Czernin

Joachim Lottmann

Hundert Tage Alkohol

Kein Roman

Ein verkrachter Sensationsjournalist aus Berlin-Mitte wird von einer Kollegin wegen sexueller Nötigung angezeigt und verliert die Nerven. Er flieht nach Österreich, um einem Prozess zu entgehen.

Während das Thema Deutschland in eine hysterische, aufgeheizte Stimmung versetzt, scheint sich in Wien niemand für seine Vorgeschichte zu interessieren. Im Gegenteil: Er erlebt einen verblüffenden sozialen Aufstieg in der Hauptstadt des ehemaligen Weltreichs, den er ausgerechnet einflussreichen Frauen verdankt, die ihn lieben, ja, einen Narren an ihm gefressen haben. Wie Georges Duroy in Guy de Maupassants Roman „Bel-Ami“ von 1885 steigt der Protagonist in Joachim Lottmanns „Hundert Tage Alkohol“ in der sozialen Hierarchie der in Wien noch intakten großbürgerlichen Bohème immer höher. Was in Berlin zu Anzeigen und Ächtung führte, bringt ihn in Wien erst recht voran. Die Uhren dort gehen anders. Das Nachtleben wird nicht von schlechtem Kokain, Beziehungs-unfähigkeit, neuer Armut und Bisexualität geprägt, sondern vom Alkohol.

 

Leseprobe:

Erst wohnte ich in einem katholischen Schwestern- wohnheim, das den irritierenden Namen „Die drei Schwestern des heiligen Erlösers“ trug. Da die christlichen Kirchen im Niedergang befindlich sind, ja seit Jahrzehnten auf dem Sterbebett liegen, störte sich niemand an meiner Person, meiner Konfession, meinem Geschlecht. Ich gab lediglich an, ein einfacher Reisender und Christ aus dem Norden Deutschlands zu sein und ein Bett zu benötigen. Ich erwarte nicht viel, murmelte ich, ängstlich meine Alkoholfahne verbergend, nur die Messe am Tag des Herrn sei mir unverzichtbar. Bei dem Ausdruck „Tag des Herrn“ verzog die Frau an der Rezeption seltsam das Gesicht. Eine Atheistin, sogar hier? Jedenfalls blieb ich eine Woche und fühlte mich wohl.