Czernin

Claudia Erdheim

Längst nicht mehr koscher

Die Geschichte einer Familie

Galizien, das östlichste Kronland der Monarchie. Moses Hersch und Esther haben fünf Söhne. Sie sind fromme, aber aufgeklärte Juden.

In ihrer Heimatstadt Boryslaw gibt es Erdöl, es herrscht Manchester-Kapitalismus. Die Familie ist sehr wohlhabend, sie besitzt Gruben, eine Erdölraffinerie und eine Brauerei. Doch ihr Schicksal und das der nachfolgenden Generationen wird vom Lauf der Geschichte bestimmt.

Drei Söhne ziehen Ende des 19. Jahrhunderts nach Wien, zwei bleiben in Galizien. Die Tochter des zweiten Sohnes ist mit einem Widerstandskämpfer liiert, den die Gestapo einsperrt. Eine Familie, die in Galizien geblieben ist, überlebt auf wundersame Weise, die andere verbrennt im Ghetto von Drohobycz, der Sohn kommt im Nebenlager Melk um. Die Familie in Wien überlebt und der Widerstandskämpfer wird in der provisorischen Regierung Unterstaatssekretär.

 

Leseprobe:

Moses Hersch macht sich auf den Weg zu seinen Gruben. Er spannt den Fabrikwagen ein und fährt mit Chaim Alter, dem Sohn Israel Gottesmanns, seines Kompagnons, los. Sie fahren nach Wolanka, um ihre Erdwachsgruben zu inspizieren. Die Straße ist voller Kot und Schlamm. So weit wie möglich fahren sie an die Gruben heran. Auf den Fichtenbrettern, die als Trottoire dienen und auf denen man sich vor lauter Menschen kaum fortbewegen kann, geht Moses Hersch in die eine Richtung, Chaim Alter in die andere. Über den Gruben sind Baracken aus Holz errichtet. Es sieht aus wie ein Zigeunerlager. Moses Hersch geht in eine der Baracken hinein. Es ist sehr dunkel und riecht penetrant nach Erdöl. Der Geruch bereitet ihm leichte Übelkeit. Er schaut kurz der Arbeiterin zu, die mit dem Handventilator der Grube Luft zuführt, fragt den Aufseher: Alles in Ordnung? sagt, bis heute abend bei der Auszahlung, und geht. Moses Hersch geht zur nächsten Grube und weiter zu einer Grube ohne Baracke. Aus der Grube hört man es läuten. Die Arbeiter ziehen an einem Seil. Moses Hersch schaut in die Grube. Nach drei Minuten taucht ein Kübel auf. In dem Kübel ist eine Leiche. Haut und Gewand sind noch erhalten, das Gesicht entstellt, aber noch erkennbar. Niemand sagt etwas. Es läutet wieder. Die Arbeiter werfen die Leiche aus dem Kübel und lassen den Kübel in die Grube hinunter.