Czernin

Irene Montjoye

Maria Theresias Türkenkind

Die abenteuerliche Lebensgeschichte der Anna Maria Königin

Ein kleines Mädchen wird um 1737 irgendwo am Schwarzen Meer geraubt und in Konstantinopel als Sklavin verkauft. Sie hat Glück und kommt zu einer im wahren Sinn des Wortes guten Familie. Sie wird geschätzt und hat das Vertrauen ihres Gebieters, wie sie den Herren des Hauses in ihren Erinnerungen nennt.

So beginnt die Geschichte der Anna Maria Königin, die die Wiener Literaturwissenschafterin Irene Montjoye aufgezeichnet hat – ein berührendes Stück aus der österreichischen Geschichte zur Zeit der Kaiserin und Königin Maria Theresia. Eine Geschichte, die tief ins Osmanische Reich führt, wo das Sklavenmädchen aufwuchs, ehe es wegen zunehmender Anzüglichkeiten des Sohn des Hauses, in dem sie lebte, in ein Kloster der Trinitarier flüchtete. Ihr Fall wurde einem türkischen Richter vorgelegt – um nachzuweisen, dass sie Christin sei, was aufgrund eines Vertrages den das Habsburgerreich mit den Osmanen geschlossen hatte, Freiheit bedeutet hätte. Als sie dem Richter erzählte, dass sie sich erinnern könne, dass bei ihr zuhause seinerzeit Eier gefärbt worden seien, wurde sie gegen Zahlung eines hohen Lösegeldes in die Freiheit entlassen. Anna Maria wurde von einem Pater nach Wien gebracht – zunächst in das Kloster zur Hl. Dreifaltigkeit auf der Alserstraße. Einige Tage später geht sie in der Prozession von 91 Losgekauften vom Kloster in die Hofburg. Anna Maria trägt ein grün besticktes Kleid, ein Geschenk der türkischen Familie. In der Hofburg ist Kaiserin Maria Theresia die Gastgeberin – die das ehemalige Sklavenmädchen als ihre Schutzbefohlene aufnimmt. Maria Theresia wird ihre Tauf- und Firmpatin, später ihre Trauzeugin und auch die Taufpatin von Anna Marias Kinder. Und weil Anna Maria keine Familiennamen hat, heißt sie fortan „Königin". Diese Geschichte ist eine Weihnachtslektüre im besten Wortsinn – leise und bedächtig von Irene Montjoye erzählt und vom Verlag bibliophil gestaltet.

 

Leseprobe:

Anna Maria wurde irgendwo an den Ufern des Schwarzen Meeres, im Lande der Tscherkessen, um 1730 geboren. Zumindest war sie immer fest davon überzeugt, dort aufgewachsen zu sein. Den Namen ihres Geburtsortes und des Ortes, an dem sie mit ihren Eltern gelebt hatte, hat sie freilich nie gekannt. Vielleicht hatte sie ihn auch nur vergessen. Anna Maria erinnerte sich, dass ihr Vater große Mengen Holz neben seinem Haus, in dessen Nähe Schiffe gebaut wurden, lagerte. Hat er den Schiffbau geleitet oder hat er nur das Holz dafür geliefert? Später hat sie sich das oft gefragt und die Lücken in ihrer Erinnerung bedauert. Da ihre Mutter zu gewissen Zeiten Eier rot gefärbt und sie oft gesehen habe, wie sie sich bekreuzigte, war Anna Maria bis ins hohe Alter fest davon überzeugt, dass ihre Eltern katholische Christen gewesen sind. Wir wissen aber nicht, ob diese Aussage aber stimmt. Sie könnte auch nur gut erfunden sein, um Anna Marias späteres Leben in einer angesehenen katholischen Familie zu legitimieren. Anna Maria hat oft von ihrer Kindheit und Jugend erzählt, und als sie gestorben war, hat ihr jüngstes Kind Theresia Elisabeth, genannt Elise, das Erzählte zu Papier gebracht. Die Pest, bei Elise „die gewöhnliche Landplage des osmanischen Reiches“ genannt – als hätte sie nur türkisches Gebiet betroffen und die christlichen Länder von Gottes Gnaden verschont –, die Pest also verbreitete sich in der Heimat Anna Marias, als sie, nach ihrer Erinnerung, sechs Jahre alt gewesen ist. Die Krankheit hat sie nicht verschont: Sie kam davon, behielt aber eine grosse Narbe am linken Arm. Von der Familie aber haben nur sie und ihre einzige, etwa ein Jahr jüngere Schwester überlebt – die Eltern sind kurz nacheinander gestorben. Nun befanden sich die zwei kleinen Mädchen in einer schrecklichen Lage. Die Eltern tot im Haus, in das niemand mehr kam, weil auch die Nachbarn und Nachbarinnen gestorben oder todkrank waren. Nur sie hatten überlebt und waren allein und sich selbst überlassen geblieben – bis eines Tages zwei oder drei schmutzige, häßliche, große Männer in die Stube stürzten. Elise nennt sie in ihren Aufzeichnungen „Türken“ – doch das konnten die kleinen Mädchen damals nicht wissen. Sie sträubten sich heftig, schlugen um sich und schrien, als die Männer sie packten und mit Gewalt aus dem Haus ans Ufer des Meeres schleppten. Dort standen einige Boote. Die Mädchen wurden voneinander gerissen und jedes von ihnen in ein anderes Boot gebracht. Unheimlich war ihnen zumute – aber völlig verzweifelt wurden sie erst, als die kleinen Boote ins freie Meer gerudert wurden und jedes an einer anderen Galeere anlegte. Jetzt wußten sie, dass man sie endgültig getrennt hatte. Viele Jahre später behauptete Anna Maria ihren Kindern gegenüber immer wieder, dass sie nur ihren eigenen Taufnamen kannte, den ihrer Schwester aber vergessen hatte. Kann ein intelligentes sechsjähriges Mädchen wirklich so leicht den Namen seiner einzigen Schwester vergessen? Oder war Maria Anna damals jünger, als sie später angenommen hat? Wie auch immer - Anna Marias Schwester wurde dem Kapitän der einen Galeere übergeben und diese verlor sich noch am gleichen Tag hinter dem Horizont. Die beiden sollten einander nie wieder sehen. Nach einer langen Fahrt und nachdem ein Sturm glücklich überstanden war, ging die Galeere, die Anna Maria an Bord genommen hatte, im Hafen von Constantinopel vor Anker. Dort wurde sie als Sklavin verkauft – an einen in ihrer Erinnerung alten Türken. II Im Vergleich mit der Rechtlosigkeit und Armut der Dienerschaft im damaligen Europa war die Sklaverei bei den Muslimen noch das bessere Los – zumindest in den Augen vieler Beobachter aus christlichen Landen. So schrieb etwa der preußische General Helmuth Moltke - der die „Zustände und Begebenheiten in der Türkei“, wenngleich rund hundert Jahre später, gut kennengelernt hatte -, es wäre besser gewesen, „Sklave als gemieteter Diener zu sein, denn der Sklave war Besitz des Brotherrn und oft dazu teuer erworbener Besitz. Folglich hatte der Sklavenhalter ein finanzielles Interesse daran, dass es seinem Sklaven gut ging. Er musste gesund erhalten, gut gepflegt, ernährt und gekleidet werden, um gegebenenfalls mit Profit wieder verkauft werden zu können.“ Als Tscherkessin gehörte Anna Maria zudem jenem kaukasischen Volk an, das bei den Türken besonders geschätzt wurde und (nicht nur pekuniär) hoch im Kurs stand. Das bestätigt auch die etwa zeitgleich, nämlich im Jahre 1745 gemachte Bemerkung des Prinzen Demetrius Cantimir von Moldawien: Tscherkessische Mädchen seien schöner als andere, ihre Körper besser proportioniert zudem seien sie bescheiden und lernwillig, geistig sehr rege, handwerklich geschickt und künstlerisch begabt - und so stünden junge Tscherkessen keinem anderen Volke nach. Eine Tscherkessin zu sein, ist in der Tat ein Glück für Anna Maria gewesen. Der Kaufmann - in ihren Erzählungen nannte sie ihn stets ihren „Gebieter“ -, der sie erworben und einen hohen Preis für sie gezahlt hatte, war ihr ein guter Herr. Und von seiner Frau, an die sie sich später immer gerne erinnerte, sollte sie in der folgenden Zeit viel lernen. Im übrigen lebten im Hause ihres „Gebieters“ noch ein bereits erwachsener Sohn und vier Töchter - und dazu freilich nicht wenige, jeweils zu zweit aneinander gekettete christliche Sklaven. Auch der Torwächter, dem sie später ihre Freiheit verdanken sollte, gehörte zu ihnen. Anna Maria hat ihren Kinder erzählt, dass in diesem Haus alle gut zu ihr gewesen seien und sie nicht wie eine Sklavin behandelt hätten – zumindest nicht so, wie man sich ein Sklavenleben in christlichen Ländern vorstellt. So unterrichtete sie die Hausfrau – ihre „Gebieterin“ – zusammen mit den Töchtern in so mancher Handarbeitstechnik, vor allem im Sticken nach türkischer Art. Die Kunst der Stickerei hat ja in der türkischen Kultur schon immer eine ganz wichtige Rolle gespielt. Anna Maria erfuhr, dass es im Palast des Sultans noch viele schönere und wertvollere Wandbehänge, Vorhänge, bestickte Teppiche, Satteldecken, Taschentücher, Umhänge und bestickte Gewänder gäbe als im Haus ihres Gebieters, der ein reicher Kaufmann war. Und während sie mit den Töchtern des Hauses stickte, erzählte man ihr von den sagenhaften Schätzen des Sultans: Neben bunten Fäden aus Leinen oder Seide wurden in der türkischen Stickerei manchmal auch Gold, Silber und Edelsteine verarbeitet, und nach dem Auszug des Sultans aus dem Topkapi-Palast soll allein das Einschmelzen von Wandbehängen, Vorhängen und Teppichen Tausende Kilo Gold und Silber eingebracht haben. Doch nicht nur in den Palästen wurden Stickereien sorgsam gehütet: Die Geldspenden und Geschenke des Sultans und dessen wohlhabender Untertanen wurden immer in bestickte Tücher gewickelt, und in allen Häusern, auch in den bürgerlichen, wurden bestickte Gegenstände hergestellt, um Mensch und Roß, Wand und Fußboden, Säbelscheide und Pfeil, Satteldecke und Münzsäckl, Zierpolster, Betten und den später zu internationalem Ruhm und weltweiter Verbreitung gelangenden Diwan zu schmücken. Türkische Stickerei war dann auch jene Kunst, die Anna Maria viele Jahre später in Wien den Töchtern der Kaiserin Maria Theresia beibringen sollte – um ihnen dabei von all den märchenhaft schönen Dingen zu erzählen, die sie in der Türkei selbst gesehen oder von denen sie dort gehört hatte.